Der Lateinunterricht unterscheidet sich vor allem in einem Punkt grundlegend vom Unterricht in den modernen Fremdsprachen:
Während diese die Kommunikation in der Fremdsprache, also eine aktive Sprechkompetenz, zum Ziel haben, steht in Latein das Übersetzen der Originaltexte ins Deutsche im Vordergrund.
Gerade diese Tätigkeit stärkt und vertieft viele Kompetenzen hinsichtlich der deutschen Muttersprache:
· Die deutsche Grammatik ist sowohl in ihrer Systematik als auch ihren Begrifflichkeiten an der lateinischen Grammatik orientiert. Die lateinische Sprache bietet daher als Basissprache eine Art grammatikalisches Rückgrat. Was ist ein Adverb? Was ist ein Partizip? Was leistet der Indikativ, was der Konjunktiv? Im Lateinunterricht werden diese Begriffe intensiv besprochen und trainiert. Sprachreflexion kann man also geradezu als Domäne des Lateinunterrichts bezeichnen.
· Der Reiz der Arbeit an den lateinischen Originaltexten liegt gerade darin begründet, nicht nur irgendeine beliebige deutsche Übersetzung zu erreichen, sondern vielmehr nach einer möglichst sinnadäquaten Wiedergabe zu suchen.
Hieraus ergibt sich die Aufgabe, genau hinzusehen, das heißt, zunächst den lateinischen Text in all seiner Bedeutungsfülle innerhalb seines Kontextes exakt zu erfassen, um dann die mögliche deutsche Übertragung durch kritisches Lesen auf Ihre Stimmigkeit im Vergleich mit dem lateinischen Original zu prüfen. Auf diese Weise wird die Verstehens- und Lesekompetenz unserer Schülerinnen und Schüler in erheblichem Maße gefördert.
· Ferner stellt sich auf dem Weg zu einer sinngerechten Übersetzung unweigerlich die Aufgabe, geeignete deutsche Ausdrücke, Wendungen und Satzkonstruktionen zu suchen, zu prüfen und begründet zu wählen.
Gerade durch dieses ständige Ringen wird die sprachliche Beweglichkeit, Ausdrucksfähigkeit, Kreativität und Sicherheit im Umgang mit der deutschen Sprache erweitert.
Dies bezieht sich nicht zuletzt auch auf die große Zahl von deutschen Lehn- oder Fremdwörtern, die aus der lateinischen Sprache abgeleitet sind und durch deren Kenntnis auch anspruchsvollere deutsche Texte leichter verstanden werden können.
So werden unsere Schülerinnen und Schüler in der Begegnung mit lateinischen Ursprungswörtern zu regelrechten „Sprachdetektiven“ (ein Detektiv ist jemand, der etwas „aufdeckt“, von „detegere“ = „aufdecken“). Sie lernen, weshalb es kein Widerspruch ist, wenn die lat. Vokabel „remedium“ auf Deutsch „Heilmittel“, aber auch „Gift“ bedeutet, und erfahren, was „Alete“ mit den „Eltern“ zu tun hat (nämlich das lateinische Ursprungswort „alere“ = „großziehen“).
Unseren Schülerinnen und Schüler machen solche Aha-Erlebnisse Spaß. Sie erweitern nicht nur ihren sprachlichen, sondern auch ihren gedanklichen Horizont, wenn sie z.B. erfahren, dass etwas „peinlich“ ist, das poena = Strafe verdient, und dass wir „quitt“ sind, wenn wir „quieti“ = „ruhig“ miteinander sind; oder wenn sie erfahren, dass fast alle Tagesbezeichnungen auf die Römer zurückgehen; und alle Monatsnamen: Der Juli auf Iulius Caesar, der August auf Kaiser Augustus; und warum der Dezember der 12. Monat ist, obwohl doch „decem“ „zehn“ heißt (siehe „Dezimalsystem“).
Im Lateinunterricht am Carolinum werden all diese Geheimnisse gelüftet.